Nachdem wir im letzten Jahr acht zwei- bis dreitägige private Ruderlager gemacht hatten, wollten wir in diesem Jahr eine längere private Ruderfahrt unternehmen. Eine Strecke war schnell gefunden: Über die Havel bis Brandenburg, von dort über den Elbe- Havel- Kanal zur Elbe, die Elbe Abwärts bis Havelberg und von dort die Havel aufwärts zurück nach Berlin. Nachdem die ersten Berechnungen 380 km ergaben, wir aber nur maximal 10 Tage zur Verfügung hatten, kürzten wir die Fahrt auf 320 km indem wir die Elbe über einen Kanalabzweig und eine andere Schleuse erreichen wollten. Diese Strecke erschien uns in acht Etappen als "machbar". Zwei Tage wollten wir uns als Sicherheit für unvorhersehbare Ereignisse (Wetter, Gegenströmung) aufheben. Das erste große Organisationsproblem bestand darin, Übernachtungsquartiere so zu finden, daß sich sinnvolle Tagesetappen ergaben. Glücklicherweise waren die meisten Adressen einer alten Vereinsliste (aus DDR- Zeiten) noch gültig und alle von uns angeschriebenen Vereine waren auf Anhieb bereit uns aufzunehmen. Leider ist das nicht immer eine Selbstverständlichkeit, wir haben in den alten Bundesländern schon andere Erfahrungen gemacht. Auch gibt es immer noch Vereine, die geradezu abenteuerliche Übernachtungspreise verlangen. Bei drei Quartieren lehnten wir dankend ab, da uns um die 10 DM für ein Luftmatrazenlager als zu unverschämt erschienen und wir solche Preise auch unserer Fahrtenkasse nicht zumuten wollten. Bei den meisten Klubs haben wir für 3- 5 DM übernachtet.
Das zweite große Problem hatten wir uns im wesentlichen selbst eingebrockt. Da wir am Karfreitag starten wollten, wäre es die ersten Tage unmöglich gewesen einzukaufen. Wir mußten deshalb für mindestens vier Tage Lebensmittel und Getränke mit im Boot haben. Um kosten zu sparen entschieden wir uns alle Lebensmittel und Getränke vorher einkaufen. Meine Eltern erklärten sich bereit, am Ostermontag (halbe Strecke) die zweite Hälfte der Verpflegung nachzubringen. Trozdem lag das Gewicht des Gepäcks bei zeitweise über 100 kg pro Boot. Wir sparten uns dadurch allerdings zeitraubende Einkäufe während der Fahrt.
Nun gingen wir daran, möglichst viele Ruderer zu finden, die diese Tour mitmachen wollten. Die Mädchenriege lehnte geschlossen ab (mit dem Zusatz: 320 km in acht Tagen, ihr seid doch wohl verrückt geworden).
Bei den Jungen fanden sich nach anfänglichen Schwierigkeiten zehn Ruderer die mit wollten. Jetzt ging es "nur" noch darum die Eltern zu überzeugen, daß ihre Kinder keine bleibenden körperlichen oder geistigen Schäden davontragen würden.
Wer jemals eine größere Party gegeben hat und dafür einkaufen mußte, kann sich vorstellen, wieviel zehn Personen in zehn Tagen essen und was das für einen Lebensmittelleinkauf vorrausetzt. Leider gingen einige Leute mal wieder nach dem Motto: ich habe was besseres zu tun als einzukaufen. Es mußte milder Zwang ausgeübt werden, um sie zum Einkaufen zu bewegen. Einige Intelligenzbestien kamen zwar bereitwillig mit, vergaßen aber, daß man zum Einkaufen auch Beutel, Taschen oder Rucksäcke braucht.
Elbe- Havel- Wanderfahrt
Karfreitag: Wannsee- Ketzin
Die Strecken der ersten anderthalb Etappen kannten wir schon von denn Fahrten aus dem Vorjahr, wir erwarteten keinerlei Überraschungen oder Probleme. Schon beim ersten Quartier ging dann alles schief. Der Wassersportclub hatte seine Nachtlager hoffnungslos überbucht. Im Übernachtungsraum waren Rennruderer von Hevella und im Klubraum schliefen 12 Wanderruderer vom RC Friesen. Deshalb mußten wir im Notquartier übernachten. Dieses ist ein altes Wasserschutzpolizeiboot mit vier Kojen im Vorschiff und zwei Kojen im Steuerhaus. Die restlichen Ruderer schliefen auf dem Boden des Steuerhauses.
Ketzin- Brandenburg/Plaue
Am nächsten Morgen kamen wir ziemlich spät los, da der Frühstücksraum vom RC Friesen blockiert war. Dafür hielt uns die Brandenburger Stadtschleuse kaum auf, obwohl es eine Berufsschiffahrtsschleuse ist. Hier wurde auch der markige Spruch geprägt: "Für die Ruderer, es war noch nicht grün", den uns die Schleusenwartin über Lautsprecher hinterher schickte (Die Tore waren offen und daß die Ampel überhaupt noch funktionierte, wußten wir nicht. Rot hatte sie nämlich nicht angezeigt.)
Dafür wurden wir in der Brandenburger Altstadt von einer Streifenwagenbesatzung über Megaphon angefeuert.
Hinter Brandenburg begann für uns Neuland. Ab hier konnten wir uns nur noch auf unsere Karte verlassen und hoffen, daß sie nicht zu sehr gefälscht worden sind (ein irriger Glaube, die Stasi hat alle Karten gefälscht, wie wir bald merkten).
Auf dem Plauer See erwischte uns der Wind. Er hatte den ganzen Tag schon ziemlich kräftig geblasen, aber nun kam er über die gesamte Seefläche direkt von vorn. Bei unseren schwerbeladenen Booten stellte er schon ein kleines Problem dar. In Plaue angekommen (liegt am Ende des Plauer Sees) wurden wir beim örtlichen Ruderclub schon erwartet. Zwei Leute nahmen uns in Empfang und brachten uns im Klubraum unter.
Hier bekamen wir auch unseren ersten ungeplanten Nachschub. Die Eltern der Solfs brachten größere Mengen Kuchen für die gesamte Mannschaft vorbei. Der kulturelle Teil des Tages fiel etwas dürftig aus. Die Besichtigung der Sehenswürdigkeiten Plaues scheiterte mangels Sehenswürdigkeiten.
Ostresonntag: Plaue- Tangermünde 55 km
Wegen der langen Strecke, die vor uns lag, legten wir schon um 9 Uhr ab. Die Schleusen des Elbe- Havel- Kanals sind an Feiertagen nur bis 16 Uhr offen. Bis dahin mußten wir durch sein. Die erste Schleuse stellte unsere Geduld schon auf eine harte Bewährungsprobe. Wir mußten über eine Stunde warten bis wir endlich mit einem Schleppzug mitschleusen konnten. Sportboote werden dort nicht alleine geschleust. Das Warten wurde noch durch die angenehmen Temperaturen von 7 bis 8 Grad versüßt.
Der nun folgende 38 km lange wurde mit nur kurzen Pausen durchgeknüppelt. Um 15.20 Uhr erreichten wir die Schleuse Parey am Ende des Kanals, direkt an der Elbe. Das letzte Frachtschiff war uns vor zwei Stunden begegnet und weit und breit keine Berufsschiffahrt zu sehen mit der wir hätten mitschleusen können. Der Schleusenwart war aber so freundlich, daß er uns auch alleine schleuste.
Die restlichen anderthalb Stunden ging es die Elbe abwärts, die zwar kein Hochwasser führte, aber ca. 6 km/h Strömung sind la auch nicht schlecht. Die Strömung konnten wir auch gut brauchen, da die Kanalfahrt doch sehr geschlaucht hatte.
Auf der Elbe sahen wir auch weiter Schleppzüge, die wir aus dem Berliner Raum heutzutage gar nicht mehr kennen. Von weitem sind sie schwer zu erkennen. Man hält sie irrtümlich zuerst für im Konvoi fahrende Einzelschiffe.
Gegen Abend erreichten wir Tangermünde. Die Stadtmauer und die Türme waren schon von Ferne in der flachen Elblandschaft zu sehen.
Die Einfahrt ins Hafenbecken wurde noch zu einer letzten Tortour, da wir ungefähr 100 Meter gegen die Strömung fahren mußten.
Einen Augenblick hatte man den Eindruck, daß man trotz Harten auf der Stelle stand.
Das Bootshaus stand am Ende des Hafenbeckens. Die Boote ließen wir gut vertäut über nacht am Steg liegen. Alternativ hätten wir sie auch einen knapp vier Meter hohen Hang mit 50 Grad Winkel hochschleppen können und dazu wären die Mannschaften vielleicht im frischen Zustand in der Lage gewesen, aber nicht mehr nach dieser Fahrtstrecke.
Das Bootshaus war sowieso eine Klasse für sich. Die Übernachtung war mit 2 DM/Mann sehr billig, jeder Pfennig mehr wäre auch eine Unverschämtheit gewesen. In Plaue hatte man uns schon vor diesem Bootshaus gewarnt. Wir sollten im Clubraum auf keinen Fall am Fenster schlafen, da es durchregnet. Die sanitären Einrichtungen waren leicht gewöhnungsbedürftig. Den Waschraum konnte man guten Gewissens eigentlich nur mit einer Gasmaske betreten, es stank wie im Schweinestall.
Nach dem kulturellen Fehlschlag vom Vortag wurden wir diesmal entschädigt. Tangermünde hat eine vollständig erhaltene Stadtmauer. Der bauliche Zustand war gut, für DDR- Verhältnisse sogar hervorragend. Tangermünde braucht sich hinter Rothenburg wirklich nicht zu verstecken. Selbst unsere anerkannten Kulturmuffel kamen freiwillig mit zur Stadtbesichtigung.
Tangermünde- Havelberg 38 km
Der Tag sollte eigentlich eine Erholung nach der Knüppeltour vom Vortag werden. 38 km mit Elbströmung erschien uns geradezu lachhaft. Leider kam es anders. Als wir uns gegen Mittag endlich entschließen konnten abzulegen, g0ß es immer noch in Strömen, wie schon den ganzen Vormittag. Dazu kam noch ein anfangs kräftiger Nebel und das alles bei Temperaturen um 10 Grad.
Wir kamen dank der Strömung schnell vorwärts und gegen 14.30 Uhr passierten wir, in leichtem Nieselregen, die Schleuse von Havelberg. Eine halbe Stunde später hatten wir auch das Bootshaus gefunden, wo uns meine Eltern schon mit dem Nachschub an Lebensmitteln erwarteten.
Das Quartier war warm und trocken und es gab sogar warme Duschen. Die Stadtbesichtigung war niederschmetternd (gerade nach Tangermünde am Vortag). Havelberg besitzt zwar auch eine Altstadt, die zweifellos auch einmal recht schön war und sogar einen Dom, aber alles machte den Eindruck totaler Verwahrlosung. Die Gebäude schienen seit 50 Jahren weder Putz noch Farbe gesehen zu haben.
Havelberg- Rathenow 45 km
Dies war die Etappe vor der alle ein wenig Angst hatten. Von nun an ging es gegen die Havelströmung aufwärts. Wir hatten am Vortag schon erfahren, daß oberhalb die Wehre geöffnet worden sind um Wasser abzulassen. Die Havel führte Hochwasser und, zahlreiche Wiesen rechts und links des Flußes waren überschwemmt. Mehrmals mußten wir überlegen was eigentlich der Fluß und was ein Altarm oder Überschwemmungsgebiet. Die Strömung lief mit etwa 4 km/h gegen uns. Das einzige Erfreuliche war, daß das Wetter langsam besser wurde. Am Morgen hatte es noch leicht geregnet. Der Regen hörte auf und am späten Nachmittag kam sogar die Sonne wieder einmal heraus.
Wir hatten an diesem Tag nur eine kurze Mittagspause auf einer sumpfigen Wiese. Bei diesem Hochwasser gab es sonst nur wenige Möglichkeiten zum Anlegen.
Mit etwas Mühe schafften wir die Schleuse Rathenow noch vor dem Schließen (17.30 Uhr waren wir da, 18 Uhr macht sie zu). Den Ruderclub Rathenow fanden wir recht schnell, da die Rathenower uns eine ziemlich genaue Stadtkarte geschickt hatten. Ohne diese Karte hätten wir auch kaum eine Chance gehabt. Die Havel teilt sich bei Rathenow in so viele Flußarme auf, daß wir stundenlang hätten suchen können.
Eigentlich wäre spätestens hier ein Pausentag eingeplant gewesen, die Mannschaft sprach sich aber mehrheitlich dagegen aus.
Rathenow-Plaue 38 km
Heute hatten wir zum ersten Mal die Gelegenheit etwas einzukaufen. Einigen waren die Süßigkeiten ausgegangen. Deshalb legten wir erst gegen Mittag ab. Nach der Hälfte der Strecke ließ die Gegenströmung zwar etwas nach, aber dafür machte uns zunehmend Gegenwind zu schaffen, der im Vergleich zum Vortag noch zugenommen hatte. Dazu kam noch, daß einige der Ruderer von der letzten Etappe mehr geschwächt waren als sie zugeben wollten. Dafür war das Wetter zum ersten Mal seit Tagen wieder richtig gut 18 Grad und Sonnenschein.
An der letzten Schleuse vor Plaue benutzten wir diesmal nicht die Hauptschleuse sondern die Kahnschleuse mit Selbstbedienung. Nur mit Mühe konnte ich einige unserer Spielkinder davon abhalten beide Tore gleichzeitig zu öffnen.
Kurz vor dem Ziel versuchte dann noch ein Steuermann eines unserer Boote zu versenken, indem er mit Rennschlag in eine riesige Wellenfront eines Tankers hereinfuhr. Das Boot schaffte die restlichen Kilometer trotz der gut 100 Liter Wasser im Boot.
Die letzten zwei Tage 37 und 30 km
In Plaue waren wir am Ausgangspunkt unserer Runde angekommen. Nun ging es nur noch über die schon bekannten Strecken (ohne nennenswerte Strömung!). Einen Tag später erreichten wir, bei leichtem Nieselregen Ketzin. Von Ketzin ging es über den Sacrow- Paretzer- Kanal zurück nach Wannsee.
Statt der veranschlagten zehn Tage brauchten wir nur acht. Pausentage wurden nicht gemacht, wir sind bei jedem Wetter gefahren. Es war die längste Strecke die wir jemals auf einer Wanderfahrt gerudert sind. Da aber alle beteiligten Ruderer voll mitgemacht haben, war es eben nicht nur eine elende Kilometerschinderei. Ich habe schon Fahrten erlebt auf denen sich einige wesentlich mehr anstrengen mußten um die Boote vorwärts zu bewegen.
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